Abends kamen sie in einen gro?en Wald und waren so mude von Jammer, vom Hunger und von dem langen Weg, da? sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.
Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien hei? in den Baum hinein. Da sprach das Bruderchen: "Schwesterchen, mich durstet, wenn ich ein Brunnlein wu?te, ich ging' und trank' einmal; ich mein', ich hort' eins rauschen." Bruderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten das Brunnlein suchen. Die bose Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwunscht.
Als sie nun ein Brunnlein fanden, das so glitzerig uber die Steine sprang, wollte das Bruderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen horte, wie es im Rauschen sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger."—Da rief das Schwesterchen: "Ich bitte dich, Bruderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerrei?t mich." Das Bruderchen trank nicht, obgleich es so gro?en Durst hatte, und sprach: "Ich will warten bis zur nachsten Quelle."
Als sie zum zweiten Brunnlein kamen, horte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf, wer aus mir trinkt, wird ein Wolf."—Da rief das Schwesterchen: "Bruderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich."—Das Bruderchen trank nicht und sprach: "Ich will warten, bis wir zur nachsten Quelle kommen, aber dann mu? ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu gro?."
Und als sie zum dritten Brunnlein kamen, horte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: , Wer aus mir trinkt, wird ein Reh, wer aus mir trinkt, wird ein Reh."— Das Schwesterchen sprach: "Ach, Bruderchen, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und laufst mir fort." Aber das Bruderchen hatte sich gleich beim Brunnlein niedergekniet, und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lip pen gekommen waren, lag es da als ein Rehkalbchen.
Nun weinte das Schwesterchen uber das arme verwunschte Bruderchen, und das Rehchen weinte auch und sa? so traurig neben ihm. Da sprach das Madchen endlich: "Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen. Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und fuhrte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Madchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es: ,Hier konnen wir bleiben und wohnen.' Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte Wurzeln, Beeren und Nusse, und fur das Rehchen brachte es zartes Gras mit, war vergnugt und spielte vor ihm herum. Abends, wenn Schwesterchen mude war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rucken des Rehkalbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hatte das Bruderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es ware ein herrliches Leben gewesen.
Das dauerte eine Zeitlang, da? sie so allein in der Wildnis waren. Es trug sich aber zu, da? der Konig des Landes eine gro?e Jagd in dem Wald hielt. Da schallte das Hornerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jager durch die Baume, und das Rehlein horte es und ware gar zu gerne dabeigewesen. "Ach", sprach es zum Schwesterlein, "la? mich hinaus in die Jagd, ich kann's nicht langer mehr aushalten", und bat so lange, bis es einwilligte. "Aber", sprach es zu ihm, "komm mir ja abends wieder, vor den wilden Jagern schlie?' ich mein Turlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: ,Mein Schwesterlein, la? mich herein!' Und wenn du nicht so sprichst, so schlie? ich mein Turlein nicht auf. " Nun sprang das Rehchen hinaus und es war ihm so wohl und es war so lustig in freier Luft. Der Konig und seine Jager sahen das schone Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen, und wenn sie meinten, sie hatten es gewi?, da sprang es uber das Gebusch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem Hauschen, klopfte und sprach: "Mein Schwesterlein, la? mich herein." Da ward ihm die kleine Tur aufgetan, es sprang hinein und ruhete sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein wieder das Hifthorn horte und das ,Ho ho !' der Jager, da hatte es keine Ruhe und sprach: "Schwesterchen, mach mir auf, ich mu? hinaus." Das Schwesterchen offnete ihm die Tur und sprach: "Aber zu Abend mu?t du wieder da sein und dein Spruchlein sagen."
Als der Konig und seine Jager das Rehlein mit dem goldenen Halsband wiedersahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und behend. Das wahrte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die Jager abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fu?, so da? es hinken mu?te und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jager nach bis zu dem Hauschen und horte, wie es rief: "Mein Schwesterlein, la? mich herein", und sah, da? die Tur ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward. Der Jager ging zum Konig und erzahlte ihm, was er gesehen und gehort hatte. Da sprach der Konig: "Morgen soll noch einmal gejagt werden."
Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, da? sein Rehkalbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte Krauter auf und sprach: "Geh auf dein Lager, lieb Rehchen, da? du wieder heil wirst." Die Wunde aber war so gering, da? das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spurte. Und als es die Jagdlust wieder drau?en horte, sprach es: "Ich kann's nicht aushalten, ich mu? dabeisein!" Das Schwesterchen weinte und sprach: "Nun werden sie dich toten, und ich bin hier allein im Wald und bin verlassen von aller Welt, ich lass' dich nicht hinaus."—"So sterb' ich dir hier vor Betrubnis", antwortete das Rehchen, "wenn ich das Hifthorn hore, so mein' ich, ich mu?t' aus den Schuhen springen!" Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schlo? ihm mit schwerem Herzen die Tur auf, und das Rehchen sprang gesund und frohlich in den Wald. Als es der Konig erblickte, sprach er zu seinen Jagern: "Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber da? ihm keiner etwas zuleide tut."
Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der Konig zum Jager: "Nun komm und zeige mir das Waldhauschen." Und als er vor dem Turlein war, klopfte er an und rief: "Lieb Schwesterlein, la? mich herein." Da ging die Tur auf, und der Konig trat herein, und da stand ein Madchen, das war so schon, wie er noch keines gesehen hatte. Das Madchen erschrak, als es sah, da? ein Mann hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der Konig sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach: "Willst du mit mir gehen auf mein Schlo? und meine liebe Frau sein?"—"Ach ja", antwortete das Madchen, "aber das Rehchen mu? auch mit, das verlass' ich nicht." Sprach der Konig: "Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es soll ihm an nichts fehlen." Indem kam es hereingesprungen; da band es das Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging mit ihm aus dem Waldhauschen fort.
Der Konig nahm das schone Madchen auf sein Pferd und fuhrte es in sein Schlo?, wo die Hochzeit mit gro?er Pracht gefeiert wurde, und es war nun die Frau Konigin, und sie lebten lange Zeit vergnugt zusammen; das Rehlein ward gehegt und gepflegt und sprang in dem Schlo?garten herum.
Die bose Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders als, Schwesterchen ware von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Bruderchen als ein Rehkalb von den Jagern totgeschossen. Als sie nun horte, da? sie so glucklich waren und es ihnen so wohlging, da wurden Neid und Mi?gunst in ihrem Herzen rege und lie?en ihr keine Ruhe, wie sie die beiden doch noch ins Ungluck bringen konnte. Ihre rechte Tochter, die ha?lich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte, die machte ihr Vorwurfe und sprach: Eine Konigin zu werden, das Gluck hatte mir gebuhrt."—"Sei nur still", sagte die Alte und sprach sie zufrieden, wenn's Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein." Als nun die Zeit herangeruckt war und die Konigin ein schones Knablein zur Welt gebracht hatte und der Konig gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat in die Stube, wo die Konigin lag, und sprach zu der Kranken: "Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohltun und frische Krafte geben; geschwind, eh' es kalt wird." Ihre Tochter war auch bei der Hand, sie trugen die schwache Konigin in die Badstube und legten sie in die Wanne. Dann schlossen sie die Ture ab und liefen davon. In der Badstube aber hatten sie ein rechtes Hollenfeuer angemacht, da? die schone junge Konigin bald ersticken mu?te.
Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und legte sie ins Bett an der Konigin Stelle. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Konigin; nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der Konig nicht merkte, mu?te sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heimkam und horte, da? ihm ein Sohnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: "Beileibe, la?t die Vorhange zu, die Konigin darf noch nicht ins Licht sehen und mu? Ruhe haben." Der Konig ging zuruck und wu?te nicht, da? eine falsche Konigin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege sa? und allein noch wachte, wie die Tur aufging und die rechte Konigin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schuttelte sie ihm sein Ki?chen, legte es wieder hinein. Sie verga? aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uber den Rucken. Darauf ging sie wieder zur Tur hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Wachter, ob jemand wahrend der Nacht ins Schlo? gegangen ware, aber sie antworteten: "Nein, wir haben niemand gesehen." So kam sie viele Nachte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Konigin in der Nacht an zu reden und sprach: "Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm' ich noch zweimal und dann nimmermehr." Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum Konig und erzahlte ihm alles. Sprach der Konig: "Ach Gott, was ist das? Ich will in der nachsten Nacht bei dem Kinde wachen." Abends ging er in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Konigin und sprach: "Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm' ich noch einmal und dann nimmermehr", und pflegte dann das Kind, wie sie gewohnlich tat, ehe sie verschwand. Der Konig getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in der folgenden Nacht. Sie sprach abermals: "Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm' ich noch diesmal und dann nimmermehr." Da konnte sich der Konig nicht zuruckhalten, sprang zu ihr und sprach: "Du kannst niemand anders sein als meine liebe Frau." Da antwortete sie: "Ja, ich bin deine liebe Frau", und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund. Darauf erzahlte sie dem Konig den Frevel, den die bose Hexe und ihre Tochter an ihr verubt hatten. Der Konig lie? beide vor Gericht fuhren, und es ward ihnen das Urteil gesprochen. Die Tochter ward in den Wald gefuhrt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mu?te jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkalbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder; Schwesterchen und Bruderchen aber lebten glucklich zusammen bis an ihr Ende.