Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schonsten Landereien seiner Provinz. Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein Schlo?, das eines Fursten wurdig ware; und in der Tat, wenn sein Park, seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen auf sechs Meilen umher die Halfte der Einwohner ernahren, so ist er durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein Furst.
Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf der Heerstra?e, und ihm gefiel, in einem Lustwaldchen auszuruhen, wo der Reisende gern verweilt. Hochstammige Baume ragen uber junges, dichtes Gebusch; man ist vor Wind und Sonne geschutzt; ein sauber gefa?ter Brunnen sendet sein Wasser uber Wurzeln, Steine und Rasen. Der Spazierende hatte wie gewohnlich Buch und Flinte bei sich. Nun versuchte er zu lesen, ofters durch Gesang der Vogel, manchmal durch Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.
Ein schoner Morgen war im Vorrucken, als jung und liebenswurdig ein Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte. Sie verlie? die Stra?e, indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu versprechen schien, wo er sich befand. Sein Buch fiel ihm aus den Handen, uberrascht wie er war. Die Pilgerin mit den schonsten Augen von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt, zeichnete sich an Korperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, da? er unwillkurlich von seinem Platze aufstand und nach der Stra?e blickte, um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete. Dann zog die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Gru?. Die schone Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu sagen und mit einem Seufzer.
«Seltsame Wirkung der Sympathie!«rief Herr von Revanne, als er mir die Begebenheit erzahlte,»dieser Seufzer ward in der Stille von mir erwidert. Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten zu fassen. Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es war die schonste Frauengestalt, die man sich denken konnte! Ihre Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anla?; ganz bestaubt, deuteten sie auf einen langen zuruckgelegten Weg, und doch waren ihre seidenen Strumpfe so blank, als waren sie eben unter dem Glattstein hervorgegangen. Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdruckt; ihre Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Wei?zeug, feine Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte. Auf eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie's; aber eine beklagenswerte, eine verehrungswurdige.
Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu fragen, ob sie allein reise. ›Ja, mein Herr‹, sagte sie, ›ich bin allein auf der Welt.‹ — ›Wie? Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne Bekannte sein?‹ — ›Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr. Eltern hab' ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde.‹ — ›Daran‹, fuhr ich fort, ›konnen Sie wohl unmoglich schuld sein. Sie haben eine Gestalt und gewi? auch ein Herz, denen sich viel vergeben la?t.‹
Sie fuhlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung. Sie offnete gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau, durchsichtig und glanzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie konne es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn er ein junges Madchen, das er allein auf der Landstra?e treffe, einigerma?en verdachtig halte: ihr sei das schon ofter entgegen gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe, sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, da? die Absicht ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen konne. Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, notigten sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzufuhren. Sie habe gefunden, da? die Gefahren, die man fur ihr Geschlecht befurchte, nur eingebildet seien und da? die Ehre eines Weibes, selbst unter Stra?enraubern, nur bei Schwache des Herzens und der Grundsatze Gefahr laufe.
Ubrigens gehe sie nur zu Stunden und auf Wegen, wo sie sich sicher glaube, spreche nicht mit jedermann und verweile manchmal an schicklichen Orten, wo sie ihren Unterhalt erwerben konne durch Dienstleistung in der Art, wonach sie erzogen worden. Hier sank ihre Stimme, ihre Augenlider neigten sich, und ich sah einige Tranen ihre Wangen herabfallen.
Ich versetzte darauf, da? ich keineswegs an ihrem guten Herkommen zweifle, so wenig als an einem achtungswerten Betragen. Ich bedaure sie nur, da? irgendeine Notwendigkeit sie zu dienen zwinge, da sie so wert scheine, Diener zu finden; und da? ich, ungeachtet einer lebhaften Neugierde, nicht weiter in sie dringen wolle, vielmehr mich durch ihre nahere Bekanntschaft zu uberzeugen wunsche, da? sie uberall fur ihren Ruf ebenso besorgt sei als fur ihre Tugend. Diese Worte schienen sie abermals zu verletzen, denn sie antwortete: Namen und Vaterland verberge sie, eben um des Rufs willen, der denn doch am Ende meistenteils weniger Wirkliches als Mutma?liches enthalte. Biete sie ihre Dienste an, so weise sie Zeugnisse der letzten Hauser vor, wo sie etwas geleistet habe, und verhehle nicht, da? sie uber Vaterland und Familie nicht befragt sein wolle. Darauf bestimme man sich und stelle dem Himmel oder ihrem Worte die Unschuld ihres ganzen Lebens und ihre Redlichkeit anheim.»
Au?erungen dieser Art lie?en keine Geistesverwirrung bei der schonen Abenteurerin argwohnen. Herr von Revanne, der einen solchen Entschlu?, in die Welt zu laufen, nicht gut begreifen konnte, vermutete nun, da? man sie vielleicht gegen ihre Neigung habe verheiraten wollen. Hernach fiel er darauf, ob es nicht etwa gar Verzweiflung aus Liebe sei; und wunderlich genug, wie es aber mehr zu gehen pflegt, indem er ihr Liebe fur einen andern zutraute, verliebte er sich selbst und furchtete, sie mochte weiterreisen. Er konnte seine Augen nicht von dem schonen Gesicht wegwenden, das von einem grunen Halblichte verschonert war. Niemals zeigte, wenn es je Nymphen gab, auf den Rasen sich eine schonere hingestreckt; und die etwas romanhafte Art dieser Zusammenkunft verbreitete einen Reiz, dem er nicht zu widerstehen vermochte.
Ohne daher die Sache viel naher zu betrachten, bewog Herr von Revanne die schone Unbekannte, sich nach dem Schlosse fuhren zu lassen. Sie macht keine Schwierigkeit, sie geht mit und zeigt sich als eine Person, der die gro?e Welt bekannt ist. Man bringt Erfrischungen, welche sie annimmt, ohne falsche Hoflichkeit und mit dem anmutigsten Dank. In Erwartung des Mittagessens zeigt man ihr das Haus. Sie bemerkt nur, was Auszeichnung verdient, es sei an Mobeln, Malereien, oder es betreffe die schickliche Einteilung der Zimmer. Sie findet eine Bibliothek, sie kennt die guten Bucher und spricht daruber mit Geschmack und Bescheidenheit. Kein Geschwatz, keine Verlegenheit. Bei Tafel ein ebenso edles und naturliches Betragen und den liebenswurdigsten Ton der Unterhaltung. So weit ist alles verstandig in ihrem Gesprach, und ihr Charakter scheint so liebenswurdig wie ihre Person.
Nach der Tafel machte sie ein kleiner mutwilliger Zug noch schoner, und indem sie sich an Fraulein Revanne mit einem Lacheln wendet, sagt sie: es sei ihr Brauch, ihr Mittagsmahl durch eine Arbeit zu bezahlen und, sooft es ihr an Geld fehle, Nahnadeln von den Wirtinnen zu verlangen.»Erlauben Sie«, fugte sie hinzu,»da? ich eine Blume auf einem Ihrer Stickrahmen lasse, damit Sie kunftig bei deren Anblick der armen Unbekannten sich erinnern mogen. «Fraulein von Revanne versetzte darauf, da? es ihr sehr leid tue, keinen aufgezogenen Grund zu haben, und deshalb das Vergnugen, ihre Geschicklichkeit zu bewundern, entbehren musse. Alsbald wendete die Pilgerin ihren Blick auf das Klavier.»So will ich denn«, sagte sie,»meine Schuld mit Windmunze abtragen, wie es auch ja sonst schon die Art umherstreifender Sanger war. «Sie versuchte das Instrument mit zwei oder drei Vorspielen, die eine sehr geubte Hand ankundigten. Man zweifelte nicht mehr, da? sie ein Frauenzimmer von Stande sei, ausgestattet mit allen liebenswurdigen Geschicklichkeiten. Zuerst war ihr Spiel aufgeweckt und glanzend; dann ging sie zu ernsten Tonen uber, zu Tonen einer tiefen Trauer, die man zugleich in ihren Augen erblickte. Sie netzten sich mit Tranen, ihr Gesicht verwandelte sich, ihre Finger hielten an; aber auf einmal uberraschte sie jedermann, indem sie ein mutwilliges Lied, mit der schonsten Stimme von der Welt, lustig und lacherlich vorbrachte. Da man in der Folge Ursache hatte zu glauben, da? diese burleske Romanze sie etwas naher angehe, so verzeiht man mir wohl, wenn ich sie hier einschalte.
Woher im Mantel so geschwinde,
Da kaum der Tag in Osten graut?
Hat wohl der Freund beim scharfen Winde
Auf einer Wallfahrt sich erbaut?
Wer hat ihm seinen Hut genommen?
Mag er mit Willen barfu? gehn?
Wie ist er in den Wald gekommen
Auf den beschneiten, wilden Hohn?
Gar wunderlich von warmer Statte,
Wo er sich bessern Spa? versprach,
Und wenn er nicht den Mantel hatte,
Wie gra?lich ware seine Schmach!
So hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm das Bundel abgepackt:
Der arme Freund ist ausgezogen,
Beinah wie Adam blo? und nackt.
Warum auch ging er solche Wege
Nach jenem Apfel voll Gefahr,
Der freilich schon im Muhlgehege
Wie sonst im Paradiese war!
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;
Er druckte schnell sich aus dem Haus,
Und bricht auf einmal nun im Freien
In bittre, laute Klagen aus:
«Ich las in ihren Feuerblicken
Doch keine Silbe von Verrat!
Sie schien mit mir sich zu entzucken
Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen traumen,
Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hie? den raschen Amor saumen,
Und gunstig war er uns genug.
Sich meiner Liebe zu erfreuen,
Der Nacht, die nie ein Ende nahm,
Und erst die Mutter anzuschreien
Jetzt eben, als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom!
Da kamen Bruder, guckten Tanten,
Da stand ein Vetter und ein Ohm!
Das war ein Toben, war ein Wuten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Da forderten sie Kranz und Bluten
Mit gra?lichem Geschrei von mir.
›Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuld'gen Jungling ein!
Denn solche Schatze zu gewinnen,
Da mu? man viel behender sein.
Wei? Amor seinem schonen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn:
Er la?t furwahr nicht in der Muhle
Die Blumen sechzehn Jahre stehn.‹ -
Da raubten sie das Kleiderbundel
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!
Da sprang ich auf und tobt' und fluchte,
Gewi?, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schon.
Sie alle wichen meinem Grimme,
Doch flog noch manches wilde Wort;
So macht' ich mich mit Donnerstimme
Noch endlich aus der Hohle fort.
Man soll euch Madchen auf dem Lande
Wie Madchen aus den Stadten fliehn!
So lasset doch den Fraun von Stande
Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Geubten
Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So andert immer die Geliebten,
Doch sie verraten mu?t ihr nicht.»
So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes Halmchen grunt.
Ich lache seiner tiefen Wunde,
Denn wirklich ist sie wohlverdient;
So geh' es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frech belugt
Und nachts, mit allzu kuhner Wage,
Zu Amors falscher Muhle kriecht.
Wohl war es bedenklich, da? sie sich auf eine solche Weise vergessen konnte, und dieser Ausfall mochte fur ein Anzeichen eines Kopfes gelten, der sich nicht immer gleich war.»Aber«, sagte mir Herr von Revanne,»auch wir verga?en alle Betrachtungen, die wir hatten machen konnen, ich wei? nicht, wie es zuging. Uns mu?te die unaussprechliche Anmut, womit sie diese Possen vorbrachte, bestochen haben. Sie spielte neckisch, aber mit Einsicht. Ihre Finger gehorchten ihr vollkommen, und ihre Stimme war wirklich bezaubernd. Da sie geendigt hatte, erschien sie so gesetzt wie vorher, und wir glaubten, sie habe nur den Augenblick der Verdauung erheitern wollen.
Bald darauf bat sie um die Erlaubnis, ihren Weg wieder anzutreten; aber auf meinen Wink sagte meine Schwester: wenn sie nicht zu eilen hatte und die Bewirtung ihr nicht mi?fiele, so wurde es uns ein Fest sein, sie mehrere Tage bei uns zu sehen. Ich dachte ihr eine Beschaftigung anzubieten, da sie sich's einmal gefallen lie? zu bleiben. Doch diesen ersten Tag und den folgenden fuhrten wir sie nur umher. Sie verleugnete sich nicht einen Augenblick: sie war die Vernunft, mit aller Anmut begabt. Ihr Geist war fein und treffend, ihr Gedachtnis so wohl ausgeziert und ihr Gemut so schon, da? sie gar oft unsere Bewunderung erregte und alle unsere Aufmerksamkeit festhielt. Dabei kannte sie die Gesetze eines guten Betragens und ubte sie gegen einen jeden von uns, nicht weniger gegen einige Freunde, die uns besuchten, so vollkommen aus, da? wir nicht mehr wu?ten, wie wir jene Sonderbarkeiten mit einer solchen Erziehung vereinigen sollten.
Ich wagte wirklich nicht mehr, ihr Dienstvorschlage fur mein Haus zu tun. Meine Schwester, der sie angenehm war, hielt es gleichfalls fur Pflicht, das Zartgefuhl der Unbekannten zu schonen. Zusammen besorgten sie die hauslichen Dinge, und hier lie? sich das gute Kind ofters bis zur Handarbeit herunter und wu?te sich gleich darauf in alles zu schicken, was hohere Anordnung und Berechnung erheischte.
In kurzer Zeit stellte sie eine Ordnung her, die wir bis jetzt im Schlosse gar nicht vermi?t hatten. Sie war eine sehr verstandige Haushalterin; und da sie damit angefangen hatte, bei uns mit an Tafel zu sitzen, so zog sie sich nunmehr nicht etwa aus falscher Bescheidenheit zuruck, sondern speiste mit uns ohne Bedenken fort; aber sie ruhrte keine Karte, kein Instrument an, als bis sie die ubernommenen Geschafte zu Ende gebracht hatte.
Nun mu? ich freilich gestehen, da? mich das Schicksal dieses Madchens innigst zu ruhren anfing. Ich bedauerte die Eltern, die wahrscheinlich eine solche Tochter sehr vermi?ten; ich seufzte, da? so sanfte Tugenden, so viele Eigenschaften verlorengehen sollten. Schon lebte sie mehrere Monate mit uns, und ich hoffte, das Vertrauen, das wir ihr einzuflo?en suchten, wurde zuletzt das Geheimnis auf ihre Lippen bringen. War es ein Ungluck, wir konnten helfen; war es ein Fehler, so lie? sich hoffen, unsere Vermittlung, unser Zeugnis wurden ihr Vergebung eines vorubergehenden Irrtums verschaffen konnen; aber alle unsere Freundschaftsversicherungen, unsre Bitten selbst waren unwirksam. Bemerkte sie die Absicht, einige Aufklarung von ihr zu gewinnen, so versteckte sie sich hinter allgemeine Sittenspruche, um sich zu rechtfertigen, ohne uns zu belehren. Zum Beispiel, wenn wir von ihrem Unglucke sprachen: ›Das Ungluck‹, sagte sie, ›fallt uber Gute und Bose. Es ist eine wirksame Arzenei, welche die guten Safte zugleich mit den ublen angreift.‹
Suchten wir die Ursache ihrer Flucht aus dem vaterlichen Hause zu entdecken: ›Wenn das Reh flieht‹, sagte sie lachelnd, ›so ist es darum nicht schuldig.‹ Fragten wir, ob sie Verfolgungen erlitten: ›Das ist das Schicksal mancher Madchen von guter Geburt, Verfolgungen zu erfahren und auszuhalten. Wer uber eine Beleidigung weint, dem werden mehrere begegnen.‹ Aber wie hatte sie sich entschlie?en konnen, ihr Leben der Roheit der Menge auszusetzen, oder es wenigstens manchmal ihrem Erbarmen zu verdanken? Daruber lachte sie wieder und sagte: ›Dem Armen, der den Reichen bei Tafel begru?t, fehlt es nicht an Verstand.‹ Einmal, als die Unterhaltung sich zum Scherze neigte, sprachen wir ihr von Liebhabern und fragten sie: ob sie den frostigen Helden ihrer Romanze nicht kenne? Ich wei? noch recht gut, dieses Wort schien sie zu durchbohren. Sie offnete gegen mich ein Paar Augen, so ernst und streng, da? die meinigen einen solchen Blick nicht aushalten konnten; und sooft man auch nachher von Liebe sprach, so konnte man erwarten, die Anmut ihres Wesens und die Lebhaftigkeit ihres Geistes getrubt zu sehen. Gleich fiel sie in ein Nachdenken, das wir fur Grubeln hielten und das doch wohl nur Schmerz war. Doch blieb sie im ganzen munter, nur ohne gro?e Lebhaftigkeit, edel, ohne sich ein Ansehn zu geben, gerade ohne Offenherzigkeit, zuruckgezogen ohne Angstlichkeit, eher duldsam als sanftmutig, und mehr erkenntlich als herzlich bei Liebkosungen und Hoflichkeiten. Gewi? war es ein Frauenzimmer, gebildet, einem gro?en Hause vorzustehn; und doch schien sie nicht alter als einundzwanzig Jahre.
So zeigte sich diese junge, unerklarliche Person, die mich ganz eingenommen hatte, binnen zwei Jahren, die es ihr gefiel bei uns zu verweilen, bis sie mit einer Torheit schlo?, die viel seltsamer ist, als ihre Eigenschaften ehrwurdig und glanzend waren. Mein Sohn, junger als ich, wird sich trosten konnen; was mich betrifft, so furchte ich, schwach genug zu sein, sie immer zu vermissen.»
Nun will ich die Torheit eines verstandigen Frauenzimmers erzahlen, um zu zeigen, da? Torheit oft nichts weiter sei als Vernunft unter einem andern Au?ern. Es ist wahr, man wird einen seltsamen Widerspruch finden zwischen dem edlen Charakter der Pilgerin und der komischen List, deren sie sich bediente; aber man kennt ja schon zwei ihrer Ungleichheiten, die Pilgerschaft selbst und das Lied.
Es ist wohl deutlich, da? Herr von Revanne in die Unbekannte verliebt war. Nun mochte er sich freilich auf sein funfzigjahriges Gesicht nicht verlassen, ob er so schon frisch und wacker aussah als ein Drei?iger; vielleicht aber hoffte er, durch seine reine, kindliche Gesundheit zu gefallen, durch die Gute, Heiterkeit, Sanftheit, Gro?mut seines Charakters; vielleicht auch durch sein Vermogen, ob er gleich zart genug gesinnt war, um zu fuhlen, da? man das nicht erkauft, was keinen Preis hat.
Aber der Sohn von der andern Seite, liebenswurdig, zartlich, feurig, ohne sich mehr als sein Vater zu bedenken, sturzte sich uber Hals und Kopf in das Abenteuer. Erst suchte er vorsichtig die Unbekannte zu gewinnen, die ihm durch seines Vaters und seiner Tante Lob und Freundschaft erst recht wert geworden. Er bemuhte sich aufrichtig um ein liebenswurdiges Weib, die seiner Leidenschaft weit uber den gegenwartigen Zustand erhoht schien. Ihre Strenge mehr als ihr Verdienst und ihre Schonheit entflammte ihn; er wagte zu reden, zu unternehmen, zu versprechen.
Der Vater, ohne es selbst zu wollen, gab seiner Bewerbung immer ein etwas vaterliches Ansehn. Er kannte sich, und als er seinen Rival erkannt hatte, hoffte er nicht, uber ihn zu siegen, wenn er nicht zu Mitteln greifen wollte, die einem Manne von Grundsatzen nicht geziemen. Dessenungeachtet verfolgte er seinen Weg, ob ihm gleich nicht unbekannt war, da? Gute, ja Vermogen selbst, nur Reizungen sind, denen sich ein Frauenzimmer mit Vorbedacht hingibt, die jedoch unwirksam bleiben, sobald Liebe sich mit den Reizen und in Begleitung der Jugend zeigt. Auch machte Herr von Revanne noch andere Fehler, die er spater bereute. Bei einer hochachtungsvollen Freundschaft sprach er von einer dauerhaften, geheimen, gesetzma?igen Verbindung. Er beklagte sich auch wohl und sprach das Wort Undankbarkeit aus. Gewi? kannte er die nicht, die er liebte, als er eines Tages zu ihr sagte, da? viele Wohltater Ubles fur Gutes zuruckerhielten. Ihm antwortete die Unbekannte mit Geradheit:»Viele Wohltater mochten ihren Begunstigten samtliche Rechte gern abhandeln fur eine Linse.»
Die schone Fremde, in die Bewerbung zweier Gegner verwickelt, durch unbekannte Beweggrunde geleitet, scheint keine andere Absicht gehabt zu haben, als sich und andern alberne Streiche zu ersparen, indem sie in diesen bedenklichen Umstanden einen wunderlichen Ausweg ergriff. Der Sohn drangte mit der Kuhnheit seines Alters und drohte, wie gebrauchlich, sein Leben der Unerbittlichen aufzuopfern. Der Vater, etwas weniger unvernunftig, war doch ebenso dringend; aufrichtig beide. Dieses liebenswurdige Wesen hatte sich hier wohl eines verdienten Zustandes versichern konnen: denn beide Herren von Revanne beteuren, ihre Absicht sei gewesen, sie zu heiraten.
Aber an dem Beispiele dieses Madchens mogen die Frauen lernen, da? ein redliches Gemut, hatte sich auch der Geist durch Eitelkeit oder wirklichen Wahnsinn verirrt, die Herzenswunden nicht unterhalt, die es nicht heilen will. Die Pilgerin fuhlte, da? sie auf einem au?ersten Punkte stehe, wo es ihr wohl nicht leicht sein wurde, sich lange zu verteidigen. Sie war in der Gewalt zweier Liebenden, welche jede Zudringlichkeit durch die Reinheit ihrer Absichten entschuldigen konnten, indem sie im Sinne hatten, ihre Verwegenheit durch ein feierliches Bundnis zu rechtfertigen. So war es, und so begriff sie es.
Sie konnte sich hinter Fraulein von Revanne verschanzen; sie unterlie? es, ohne Zweifel aus Schonung, aus Achtung fur ihre Wohltater. Sie kommt nicht aus der Fassung, sie erdenkt ein Mittel, jedermann seine Tugend zu erhalten, indem sie die ihrige bezweifeln la?t. Sie ist wahnsinnig vor Treue, die ihr Liebhaber gewi? nicht verdient, wenn er nicht alle die Aufopferungen fuhlt, und sollten sie ihm auch unbekannt bleiben.