Die geheime Reise der Mariposa

Primavera 1945

Fruhjahr 1945

Er wusste genau, wie er das Schiff um die unsichtbaren Klippen herumsteuern musste, die vor der Insel lagen. Er wusste es besser, als die Piraten es gewusst hatten, Jahrhunderte zuvor. Er wurde es nie vergessen.

Er wusste, wo er den Anker auswerfen musste und wo der Weg begann, der den Berg hinauffuhrte. Sein Vater sah zu, wie er die Spannung der Ankertrosse prufte. In seinem Blick lag Stolz. »Dieses Schiff«, sagte er. »Es gehorcht dir wie ein Hund.«

»Nicht wie ein Hund«, sagte Jose. »Es hat seinen eigenen Willen. Wir verstehen uns.«

Sie wateten schweigend zum Ufer. Eine Gruppe von Seelowen lag im warmen Sand und beobachtete die Neuankommlinge aus tragen Sonnenaugen. Dann, ganz plotzlich, rollte eines der Tiere herum und robbte auf Jose zu.

»Chispa?«, fragte er verwundert. »Bist du das?«

Die Seelowin rieb ihren Kopf an seinem Knie.

Una noche en el mare pacifico

Eine Nacht auf dem Pazifik

Der Pazifik lag schwer und schwarz in der Nacht wie ein Stein. Ein dunkler Stein aus erkalteter Lava.

Es war kaum auszumachen, wo das Wasser endete und wo der Himmel begann. Alles, was es gab, war Schwarze. Sternenlose Schwarze. Und irgendwo in dieser Schwarze war ein Schiff unterwegs: die Isabelita. Sie hie? nach der Insel, von der sie jetzt kam, Isabela, der gro?ten der Galapagosinseln.

Die Positionslichter des Schiffs waren das Einzige, was man in der Dunkelheit sah: ein schwaches grunes Leuchten rechts, an Steuerbord, ein rotes Gluhen an Backbord, eine wei?e Lampe am Bug. So glitt die Isabelita durch die Nacht, lautlos, unter Segel, denn Treibstoff gehorte zu den Dingen, die in der letzten Zeit gespart werden mussten. Die Nacht um das Schiff herum war eine Mainacht im Jahr 1942. Fur die Galapagosinseln bedeutete dies das Ende der Regenzeit. Fur die Weltgeschichte bedeutete es etwas anderes: Weit, weit fort, in Europa, tobte ein Krieg. Aber er dehnte und reckte sich schon, wuchs und gedieh und streckte seine Krallen bis in die pazifische Nacht.

Ware jemand an Deck gewesen und hatte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hatte er gesehen, wie eine kleine Gestalt den Steuerbordaufgang hinaufkletterte. Im Licht der Lampe ware ein Kopf mit struppigem, kurzem blondem Haar in der Luke aufgetaucht … zwei magere Hande, die sich am Gelander festklammerten … eine abgetragene Jacke und eine graue Hose … blo?e Fu?e. Schlie?lich ware das Licht an der Gestalt hinaufgewandert und hatte in ein blasses Gesicht geschienen: ein Gesicht mit einer Narbe an der Stirn. Ein Gesicht, das auf den ersten Blick wirkte, als besa?e es weder Augenlider noch Brauen, so hellblond waren sie. Ein Gesicht mit fest geschlossenen Augen.

Die Gestalt, der das Gesicht gehorte, schlief. Sie war im Schlaf die steile Treppe hinaufgeklettert und nun ging sie im Schlaf uber das taufeuchte Deck.

Oh, ware jemand an Deck gewesen und hatte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hatte er sich sicherlich gewundert. Doch es war niemand da, und so sah niemand, wie die Gestalt das Vorderdeck uberquerte – oder sollten wir sagen: der Junge? Nennen wir den Jungen Jonathan, denn Jonathan war der Name auf dem Pass in seiner Tasche. Jonathan Christopher Smith, geboren am 12.2.1929 in London.

Naturlich stimmte das nicht unbedingt.

Jetzt begann er zu rennen, panisch, im Zickzack, hierhin und dorthin – wie ein Kaninchen auf der Flucht. Seine Angst fullte die Nacht auf dem Vorderdeck der Isabelita ganz aus und machte sie noch schwarzer, als sie ohnehin schon war.

Aber Jonathan befand sich nicht auf dem Vorderdeck der Isabelita. Er traumte. Und im Traum glitt er zuruck, Tage, Wochen, Monate – im Traum befand er sich wieder in Deutschland.

Er stand auf einer Treppe, den Griff eines Koffers in der Hand. Drau?en jaulten Sirenen, ihr Ton schwoll an und wieder ab, an und wieder ab, wie das Schmerzgeheul eines riesigen verletzten Tieres.

Das riesige Tier war die Stadt Hamburg und das Heulen der Sirenen bedeutete Fliegeralarm. Irgendwo dort drau?en glitten die Flugzeuge durch die Nacht. Sie sahen die Lichter der Stadt nicht. Die Stadt lag im Dunkeln. Aber die Flieger wussten, wo sie zu suchen hatten …

Unten auf der Treppe drangten sich Schemen von Menschen aneinander vorbei. Er konnte ihre Angst riechen. Hektische Stimmen fullten den Hausflur. Er umklammerte den Koffer fester. Er wollte nicht mit ihnen rennen, wollte nicht Teil ihrer Hektik werden.

Mama wartete unten. »Wo bleibst du?«, rief sie. »Komm! Beeil dich!«

Und dann rannte er doch. Er hetzte die dunklen Stufen hinunter, stolperte und fing sich wieder und schlie?lich stand er drau?en auf der Stra?e. Hinter ihm lag der Eingang zum Haus Nummer 19. Die Stra?e war nicht so dunkel, wie er gedacht hatte. Der Mond schien. Der Mond wusste nichts von Verdunkelungen. Dummer, einfaltiger Mond.

Er beschien den alten Herrn Meier aus dem zweiten Stock mit seiner zu schweren Stofftasche. Er beschien die junge Frau Edler aus dem Erdgeschoss, die zwei kleine Kinder mit sich zog. Er beschien Frau Adam, die eine Stehlampe trug. Wozu eine Stehlampe?

Der Mond wusste es nicht. Er beschien auch Jonathans Schwester Julia, die ihren Teddybaren an sich druckte, den mit der roten Schleife am Hals. Und er beschien Mamas Gesicht. Im Mondschein sah Jonathan sie lacheln. Sie war stehen geblieben, als ware plotzlich nichts mehr eilig. Er wurde nie vergessen, wie sie da im Mondschein auf der Stra?e stand, lachelnd. Sie trug die alte karierte Schiebermutze seines Vaters auf ihrem hellen Haar, eines der wenigen Dinge, die er hinterlassen hatte. Die Mutze lie? sie wie ein Stra?enjunge wirken, unpassend frech und frohlich fur die Nacht.

Sie streckte eine Hand aus und zerzauste Jonathans Haar. Irgendwo hinter ihr in der Nacht bluhte das Gei?blatt am Haus, schwer und su?.

»Komm!«, sagte Mama noch einmal. »Es wird Zeit.« Dann nahm sie die kleine Julia an der Hand. »Halt deinen Baren gut fest«, sagte sie, »denn jetzt laufen wir.«

In diesem Moment horte Jonathan die Flugzeuge. Er hob den Kopf. Sie waren ganz nah, so nah, wie er sie noch nie gesehen hatte – und die Nacht zerbarst mit einem lauten Krachen. Er sah ihre Scherben nach allen Seiten davonspritzen, todlich rot. Sie hatten ein Haus in der Nahe getroffen. Er rannte jetzt wieder. Rannte vorwarts, den anderen nach. Das Haus Nummer 19 besa? keinen eigenen Luftschutzkeller, sie waren dem Keller von Nummer 21 zugeteilt worden. Nur ein paar Schritte, – das Heulen der Sirenen vermischte sich mit einem weiteren Krachen, irgendwo prasselten Flammen, mehr und mehr Flammen. Es – es war, als bewegten sich seine Beine in Zeitlupe. Er stolperte Stufen hinunter … und hammerte gegen eine Tur. Jemand offnete sie, zerrte ihn in den Keller und warf die Tur wieder zu. Das Heulen der Sirenen blieb hinter ihm zuruck. Das schwache Licht einer Kerze machte die kauernden Menschen zu unwirklichen, klobigen Schatten, sie verschmolzen mit ihren Klappstuhlen und ihren Koffern zu gro?en, hasslichen Klumpen aus Angst. Jonathan merkte, dass jemand ihn am Kragen gepackt hielt: Richard. Richard hatte ihn auch eingelassen. Er war schon siebzehn, funf Jahre alter als Jonathan. Irgendwie hatte er es trotz der Eile geschafft, seine Uniform anzuziehen. Seit Richard Blockwart von Nummer 21 war und eine Uniform besa?, war er zehn Zentimeter gro?er. Vielleicht schlief er auch in der Uniform. Jetzt holte Richard mit der freien Hand aus und schlug Jonathan ins Gesicht.

»Was hast du dir gedacht, so lange da drau?en herumzutrodeln?«, keuchte er. »Ich habe die Verantwortung fur den Keller. Eigentlich hatte ich dich gar nicht mehr hereinlassen durfen.«

Er legte den Riegel vor die Tur und stellte sich davor, breitbeinig, uniformiert.

Jonathan sah sich um. Er spurte den Schmerz in seinem Gesicht nicht. Er hatte keine Zeit fur den Schmerz. Er hatte keine Zeit fur Richards Uniform.

Wo waren Mama und Julia?

Richards Worte klangen in Jonathans Ohren nach: »… dich nicht mehr hereinlassen durfen.« Dich, nicht euch. Sie waren noch drau?en, da drau?en im Chaos. Sie und Julia und der Teddybar mit der roten Halsschleife.

Jonathan machte einen Satz nach vorn, um Richard beiseitezuschieben und die Tur noch einmal zu entriegeln. Da lief ein Zittern durch den Betonboden. Irgendwo war ein weiteres Haus getroffen worden, ganz nah. Feiner Staub rieselte von der Decke wie Schnee. Einen Moment spater bebte der Boden so stark, dass Jonathan das Gleichgewicht verlor. Als er aufstehen wollte, spurte er eine Hand im Nacken, die ihn zu Boden druckte.

»Bleib, wo du bist!«, befahl Richard. Seine Stimme war scharf und schneidend wie zerbrochenes Glas. Wie eine zerbrochene Nacht. »Lass die Finger von der Tur! Horst du denn nicht, was da drau?en los ist? Willst du uns alle umbringen?«

»Aber … meine Mutter!«, keuchte Jonathan. »Und … Julia ist …«

»Wenn sie jetzt noch da drau?en sind, kann man ihnen nicht mehr helfen«, sagte Richard kalt.

Jonathan versuchte sich loszurei?en, doch Richard war starker als er. Sie rangen eine Weile auf dem Boden miteinander, stumm, schwer atmend, und endlich schaffte Jonathan es, aus Richards Griff zu schlupfen. Er rappelte sich auf und streckte den Arm nach dem Turgriff – da sah er aus dem Augenwinkel, dass Frau Adam aufgestanden war. Sie hatte sich oft im Treppenhaus mit Mama unterhalten. Sie wurde ihm helfen. Sie hielt etwas in den Handen … und dann traf ihn der Fu? einer Stehlampe hart am Kopf.

Nein, es war nicht der Fu? einer Stehlampe. Es war Wasser. Kaltes, salziges Wasser, das in seinen Mund drang. Er erwachte mit einem Ruck aus seinem Traum, kampfte sich an die Oberflache und schnappte nach Luft. Um ihn lag die schwarze Nacht des Pazifiks. Dann rollte die Wolkendecke am Himmel zuruck und entblo?te eine Kuppel, voll von Millionen glitzernder Juwelen: Sternbilder auf ihrem Weg uber den Himmel. Und Jonathan begriff: Er war im Traum uber die Reling geklettert, ohne es zu merken.

Die Reling der Isabelita.

Der dunkle Umriss des Schiffs begann bereits, sich zu entfernen.

»Schwimmen. Du musst schwimmen.«

Wer hatte da geflustert? Das Flustern war ganz nah gewesen. Es flusterte jetzt einen Namen. Einen falschen Namen. Einen Namen, den er in Deutschland zuruckgelassen hatte. Und plotzlich wusste er, wem die Stimme gehorte. Es war seine eigene. Er gehorchte. Er schwamm.

Er schwamm der Isabelita nach, hinein in die pazifische Nacht, uber sich nur die funkelnden Sternbilder, unerreichbar weit weg. So unerreichbar wie Deutschland.

»Deutschland«, sagte er, nur um noch einmal seine eigene Stimme zu horen. Sie war ihm fremd geworden. Er hatte sie lange nicht gebraucht. Seit jener Nacht, in der ihn Frau Adam mit einer Stehlampe bewusstlos geschlagen hatte, um ihn zu retten.

Damals war etwas geschehen, etwas Seltsames: Er war verschwunden. Nur eine leere, tote Hulle war zuruckgeblieben, eine Hulle, die sich gehorsam bewegt hatte wie eine Puppe. Und jetzt, hier, im kalten Wasser, war diese Hulle zerbrochen.

Die Zeit war an ihm vorbeigeglitten. Welcher Monat war dies? Welche Jahreszeit? Sie waren eine Ewigkeit unterwegs gewesen, er und Thomas Waterweg. Er erinnerte sich fast nicht an die Reise. Nur daran, dass er Spanisch gelernt hatte auf dem Schiff. Allein durch das Zuhoren. Das war nicht auf der Isabelita gewesen, sondern auf dem gro?eren Schiff, vorher – dem, das sie in einer wochenlangen Reise uber den Atlantik gebracht hatte.

Er begann zu frieren. Irgendwo, viele Meilen unter ihm, lag der Meeresgrund. Er hatte keine Chance. Plotzlich musste er lachen. »Wie sehr sich Waterweg wundern wird!«, flusterte er.

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